Frieden sichern und Mauern überwinden – Ost- und Deutschlandpolitik 1955–1989

Um einen Atomkrieg zu verhindern, spricht sich Willy Brandt schon ab Mitte der 1950er Jahre in Berlin für eine Entspannung und eine „friedliche Koexistenz“ zwischen Ost und West aus. Zugleich befürwortet er – besonders nach dem Mauerbau 1961 – eine „Politik der kleinen Schritte“, die das Leben der Menschen im geteilten Deutschland erleichtern soll. Das sind auch die Hauptziele des Bundeskanzlers Brandt. Seine „neue Ostpolitik“ sichert den Frieden, fördert den Zusammenhalt der Nation und gibt den Anstoß zur Aussöhnung der Deutschen mit ihren osteuropäischen Nachbarn. Damit werden wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen, den Kalten Krieg zu beenden und die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden.

Ideelle Wurzeln in den 1950er Jahren

Die Wurzeln des ost- und deutschlandpolitischen Denkens von Willy Brandt reichen bis in die Anfangsjahre des Kalten Krieges zurück, der von 1948 an Deutschland, Europa und die Welt teilt. Die gescheiterten Volksaufstände in der DDR 1953 und in Ungarn 1956 bringen den Berliner Sozialdemokraten zu der Überzeugung, dass sich die Herrschaft der Kommunisten nicht mit Gewalt beseitigen lässt, wenn es nicht zum Atomkrieg kommen soll. Seiner Meinung nach kann der freiheitlich-demokratische Westen nur mit einer auf Entspannung, „friedlicher Koexistenz“ und Austausch zwischen den Blöcken angelegten Politik dazu beitragen, das kommunistische System im Osten langfristig zu überwinden.

Als Regierender Bürgermeister von Berlin fordert Brandt bereits Anfang 1958, dass die Bundesrepublik Deutschland – in Ergänzung zu ihrer Westintegration und in enger Absprache mit ihren westlichen Partnern – auch „Ostpolitik“ betreiben müsse. Damit meint er sowohl ein besseres Verhältnis zur Sowjetunion als auch die Aufnahme von Kontakten mit den kommunistisch regierten Staaten in Osteuropa, vor allem mit Polen.

Für den Zusammenhalt der deutschen Nation

Auch gegenüber dem östlichen Teil Deutschlands plädiert Willy Brandt für Austausch statt Abschottung. Gleichwohl bekämpft er das kommunistische SED-Regime in der DDR unter Walter Ulbricht mit aller Härte und tritt leidenschaftlich für die staatliche Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ein. Der Sozialdemokrat erkennt jedoch früh, dass dieses Ziel nur auf internationaler Ebene zu erreichen ist und zugleich in immer weitere Ferne rückt.

Deshalb stellt Brandt schon seit Mitte der 1950er Jahre die Wahrung des nationalen Zusammenhalts und die Linderung der menschlichen Not, die durch die Teilung verursacht wird, in den Mittelpunkt seiner Deutschlandpolitik. Die Bundesrepublik soll sich demnach besonders darum bemühen, durch Vereinbarungen mit den ostdeutschen Behörden das Leben der Menschen im gespaltenen Deutschland schrittweise zu erleichtern. Eine Anerkennung der DDR als Staat lehnt Brandt zu diesem Zeitpunkt aber noch kategorisch ab.

Berlin-Krise und Mauerbau

Indes werden die entspannungspolitischen Ideen durch das ChruschtschowUltimatum Ende 1958 und die dadurch ausgelöste Berlin-Krise mehr als vier Jahre fast völlig in den Hintergrund gedrängt. Wichtigste Ziele in dieser Krise sind für Willy Brandt zum einen die Sicherung der Freiheit und der Lebensfähigkeit von West-Berlin und zum anderen das Offenhalten der Grenze zu Ost-Berlin.

Den Drohungen der Sowjetunion zum Trotz bleibt der Westteil der Stadt tatsächlich frei. Doch mit der Berliner Mauer, die das SED-Regime in der DDR mit sowjetischer Billigung 1961 errichtet, wird die Grenze geschlossen und die Teilung zementiert. Die Wiedervereinigung Deutschlands, die Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) als Frucht seiner Politik der Westintegration in Aussicht gestellt hat, erscheint ferner denn je. In der Folge verschwindet die deutsche Frage für lange Zeit von der internationalen Tagesordnung.

„Friedliche Koexistenz“ und „Wandel durch Annäherung“

Die brutale Realität der Mauer erzwingt geradezu eine neue Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik und des Westens insgesamt. Auf die eigenen Ideen aus den 1950er Jahren zurückgreifend und angelehnt an US-Präsident John F. Kennedy, wirbt Willy Brandt in Vorträgen in Harvard 1962 und in Tutzing 1963 für eine „Politik der friedlichen Koexistenz“, der Entspannung und des Austauschs mit dem Osten. Sie soll den Frieden in Europa und der Welt sichern helfen und langfristig Veränderungen im kommunistischen Machtbereich anstoßen. Unterstützt wird der Regierende Bürgermeister bei diesen Überlegungen durch seinen engsten Berater Egon Bahr, der die Entspannungspolitik auch gegenüber der DDR anwenden möchte und dafür 1963 die Formel „Wandel durch Annäherung“ prägt.

In Berlin geht es den Verantwortlichen im Rathaus Schöneberg vor allen Dingen um spürbare Erleichterungen für die von der Mauer getrennten Familien. Statt große Reden für die Wiedervereinigung zu halten wollen Brandt und seine Mitstreiter im West-Berliner Senat mit einer „Politik der kleinen Schritte“ die Grenze durchlässig machen. Deshalb verhandeln sie Ende 1963 erstmals mit der DDR-Regierung. Diese Gespräche führen zum ersten Passierscheinabkommen, durch das Hunderttausende West-Berliner über die Weihnachtstage 1963/64 Verwandte in Ost-Berlin besuchen können.

Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition

Die „Politik der kleinen Schritte“ in Berlin ist Vorläufer einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik, die sich im Laufe der 1960er Jahre in der Bundesrepublik allmählich herausbildet. Die Große Koalition in Bonn unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) nimmt ab Ende 1966 wichtige Kurskorrekturen vor, an denen Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt sowie sein Planungschef Egon Bahr maßgeblich mitwirken.

CDU/CSU und SPD befürworten eine internationale Entspannung und halten eine Lösung der deutschen Frage nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung für möglich. Darüber hinaus sind sich die Koalitionspartner in dem Bestreben einig, mit den Nachbarn in Osteuropa Vereinbarungen über Gewaltverzicht zu schließen und die Aussöhnung mit ihnen zu suchen. Die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen gelingt hingegen nur mit Rumänien 1967. Auf Druck der Sowjetunion, der DDR und Polens verweigern sich die übrigen Ostblockstaaten einer Annäherung an die Bundesrepublik.

Um die Bonner Entspannungspolitik aus der Sackgasse zu führen, spricht sich Außenminister Brandt 1968 erstmals für die Respektierung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze aus. Aber damit kann sich der Vizekanzler in der Großen Koalition nicht durchsetzen. Gegen seinen Rat hält die CDU/CSU auch an dem Anspruch fest, dass die DDR kein Staat sei und allein die Bundesrepublik alle Deutschen und ganz Deutschland vertrete. Brandts dringender Empfehlung, den Atomwaffensperrvertrag zu unterschreiben, folgen Kiesinger und die Christdemokraten ebenfalls nicht.

„Neue Ostpolitik“ der sozial-liberalen Koalition

Erst die sozial-liberale Bundesregierung von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) wagt es ab 1969, die alten Tabus zu brechen. Sie leugnet nicht länger die Existenz des zweiten deutschen Staates, setzt ihre Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag und gibt den Bonner Alleinvertretungsanspruch auf. Als erster bundesdeutscher Regierungschef reist Brandt 1970 zu Gesprächen in die DDR.

Gewaltverzicht, Respektierung der Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa, Abbau von Spannungen, Friedenssicherung, gutnachbarliche Beziehungen und blockübergreifende Kooperation sind die Leitsätze der so genannten „neuen Ostpolitik“ der sozial-liberalen Regierung. Entscheidende Bedeutung hat dabei das Abkommen, das Egon Bahr 1970 für die Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion aushandelt. Der Moskauer Vertrag, den Brandt und Scheel im Kreml unterzeichnen, macht den Weg frei für die weiteren Ostverträge mit Polen 1970, der DDR 1972 und der Tschechoslowakei 1973 sowie für das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin 1971.

Internationaler Ansehens- und Vertrauensgewinn

Mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens akzeptiert die Bundesrepublik den endgültigen Verlust der ehemals deutschen Ostgebiete als ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, den Hitler-Deutschland begonnen und verloren hat. Mit seinem Kniefall in Warschau, der weltweit großes Aufsehen erregt, bekennt sich Brandt auch zu Schuld und Verantwortung der Deutschen für die millionenfachen Verbrechen des NS-Regimes. Stellvertretend für sein Land bittet der Kanzler stumm um Vergebung.

International erwirbt sich die Bundesrepublik durch die „neue Ostpolitik“ das Ansehen eines allseits geachteten, dem Frieden verpflichteten Partners. Ohne ihre feste Verankerung im westlichen Bündnis und in der Wertegemeinschaft der demokratischen Staaten in Frage zu stellen, trägt sie wesentlich dazu bei, die Spannungen zwischen den Blöcken zu reduzieren und die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zu mindern. Nicht zuletzt dafür erhält Willy Brandt 1971 den Friedensnobelpreis. Innenpolitisch ist die „neue Ostpolitik“ aber stark umstritten. Die CDU/CSU-Opposition und die Vertriebenenverbände bekämpfen die Ostverträge heftig.

Festhalten am Ziel der deutschen Einheit

Die SPD-FDP-Koalition respektiert den politischen Status quo in Europa, ohne jedoch das Ziel aufzugeben, die deutsche Einheit wiederherzustellen. Am Selbstbestimmungsrecht der Deutschen hält Willy Brandt unerschütterlich fest. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik bleibt für ihn und seine Regierung ausgeschlossen. Denn beide deutsche Staaten können füreinander nicht Ausland sein, betont der Bundeskanzler.

Der Aufbau von Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin ermöglicht Regelungen im innerdeutschen Reise-, Besuchs- und Postverkehr, die erhebliche Verbesserungen für Millionen Deutsche mit sich bringen. Die Erleichterungen im alltäglichen Leben der Menschen und die Sicherung der Bindungen und Verbindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin bewahren und stärken den Zusammenhalt im geteilten Deutschland.

Internationale Entspannung und ihre Grenzen

Mit Beginn der Gespräche über konventionelle Truppen und Rüstungen (MBFR) und der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) tritt die Ostpolitik 1973 von der bilateralen in die multilaterale Phase ein. Höhepunkt der internationalen Entspannung ist 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki. Darin verpflichten sich die 35 europäischen und nordamerikanischen Unterzeichnerstaaten insbesondere zur Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa, zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und zur Einhaltung der Menschenrechte.

Willy Brandt und Egon Bahr verbinden damit die Vision, über vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung zu einem neuen Sicherheitssystem und schließlich eines Tages auch zu einer europäischen Friedensordnung gelangen zu können. Doch diese Hoffnung erfüllt sich in den 1970er Jahren nicht. Nach 1975 rutscht die Entspannungspolitik allmählich in die Krise.

„Zweiter Kalter Krieg“ und „zweite Phase der Ostpolitik“

Durch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979, die Polen-Krise 1980/81 und das atomare Wettrüsten der Supermächte zu Beginn der 1980er Jahre verschärft sich der Ost-West-Konflikt aufs Neue. Im „zweiten Kalten Krieg“ steht für Willy Brandt die Verhinderung eines Nuklearkriegs, der alles vernichten würde, im Zentrum. Ab 1983 suchen die SPD und ihr Vorsitzender, die sich in der Bundesrepublik wieder in der Opposition befinden, verstärkt den Dialog mit den kommunistischen Machthabern im Ostblock. Ziel dieser „zweiten Phase der Ostpolitik“ ist es, die Entspannung wiederzubeleben, die Abrüstung zu fördern und Elemente einer europäischen Friedensordnung zu entwickeln.

Mit der SED in der DDR verhandeln die bundesdeutschen Sozialdemokraten über atom- und chemiewaffenfreie Zonen in Mitteleuropa. Die daraus entstehenden Vereinbarungen sind aber stark umstritten. Das gilt auch für das gemeinsame Dialogpapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, das SPD und SED 1987 veröffentlichen. Auf Willy Brandts Initiative knüpft die SPD in den 1980er Jahren auch zu den kommunistischen Staatsparteien in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion hochrangige Kontakte. Wie einst schon zu KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew, baut er auch zu dessen letztem Nachfolger Michail Gorbatschow, der 1985 in Moskau an die Macht kommt, enge Beziehungen auf. Gorbatschows Abrüstungsinitiativen und Reformpolitik begrüßt und unterstützt Brandt sehr.

Wenig Kontakte zur Opposition in Osteuropa

Den osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen, die sich auf die KSZE-Schlussakte berufen und in ihren Ländern die Beachtung der Menschenrechte verlangen, steht Willy Brandt zurückhaltend gegenüber. Einerseits hat er viel Sympathie für die tschechoslowakische „Charta 77“ und die polnische Gewerkschaft „Solidarność“. Andererseits will er sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Ostblockstaaten einmischen. Um seine guten Beziehungen mit den dort Regierenden nicht zu gefährden, vermeidet Brandt eine öffentliche Parteinahme für die Oppositionellen.

Im Falle Polens fürchtet der SPD-Vorsitzende zu Beginn der 1980er Jahre zudem eine sowjetische Militärintervention wie zuletzt 1968 in der Tschechoslowakei, für die er keinen Vorwand liefern möchte. Dass Willy Brandt auf die Verhängung des Kriegsrechts 1981 relativ moderat reagiert und dass er bei seinem Polen-Besuch 1985 nicht mit dem Solidarność-Anführer Lech Wałęsa zusammenkommt, stößt allerdings auf viel Kritik.


Literaturhinweise:

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 6: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966–1974, bearb. von Frank Fischer, Bonn 2005.

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 9: Die Entspannung unzerstörbar machen. Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1974–1982, bearb. von Frank Fischer, Bonn 2003.

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 10: Gemeinsame Sicherheit. Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1982–1992, bearb. von Uwe Mai, Bernd Rother und Wolfgang Schmidt, Bonn 2009.

Wolfgang Schmidt: Willy Brandts Ost- und Deutschlandpolitik, in: Bernd Rother (Hrsg.): Willy Brandts Außenpolitik, Wiesbaden 2014, S. 161–257.

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