„Berlin bleibt frei“ – Politik in und für Berlin 1947–1966
Im vom Kalten Krieg geteilten Berlin vollzieht sich der politische Aufstieg Willy Brandts. Als Berliner Vertreter im Bundestag in Bonn sowie als Mitglied des Abgeordnetenhauses kämpft der Sozialdemokrat leidenschaftlich für West-Berlins Freiheit und für die Einheit Deutschlands. Nach einem langjährigen Machtkampf in der Berliner SPD wird Brandt 1957 Regierender Bürgermeister. Der außerordentlich populäre Politiker führt seine Stadt durch die Berlin-Krise, die mit dem Mauerbau 1961 ihren Höhepunkt erreicht. Dabei erwirbt Willy Brandt sich weltweit große Anerkennung. Gestärkt durch einen triumphalen Wahlsieg, beschreitet er ab 1963 neue Wege in der Ost- und Deutschlandpolitik.
Entscheidung für Berlin
1947 kommt Willy Brandt nach Berlin an die Norwegische Militärmission. Als Presseattaché berichtet er dem Außenministerium in Oslo über die Entwicklungen in der Viersektoren-Stadt, die wie Deutschland als Ganzes seit 1945 der gemeinsamen Kontrolle durch die vier Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion unterliegt.
Nach knapp einem Jahr entscheidet sich Brandt für den Wechsel in die deutsche Politik, weil er aktiv am demokratischen Wiederaufbau des Landes mitwirken will. 1948 übernimmt der 34-Jährige den Posten als Berliner Vertreter des in Hannover ansässigen SPD-Parteivorstands, an dessen Spitze Kurt Schumacher steht. Im selben Jahr erhält Brandt auch die deutsche Staatsbürgerschaft zurück.
Zeuge des Kalten Krieges
An der Spree erlebt der junge Sozialdemokrat die Anfänge des Ost-West-Konflikts hautnah mit. Hier prallen die sowjetkommunistische Diktatur und die parlamentarische Demokratie direkt aufeinander. 1948 verhängt die Sowjetunion eine Blockade gegen die drei Westsektoren Berlins, die daraufhin von den Amerikanern und den Briten 14 Monate lang über eine „Luftbrücke“ versorgt werden. Der Kalte Krieg führt schließlich 1949 zur Gründung von zwei deutschen Staaten: der Bundesrepublik Deutschland im Westen und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Osten.
Im Schulterschluss mit den drei Westmächten und an der Seite von Oberbürgermeister Ernst Reuter (SPD) kämpft Willy Brandt für die Freiheit der West-Berliner und deren enge Bindung an die Bundesrepublik und die westliche Welt. Von 1949 bis 1957 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages in Bonn, hat aber dort als Berliner Vertreter kein volles Stimmrecht. Von 1950 an gehört Brandt auch dem West-Berliner Abgeordnetenhaus an.
Innerparteilicher Aufstieg mit Hindernissen
Im SPD-Landesverband fasst der Neu-Berliner schnell Fuß. Neben seiner Tätigkeit als Abgeordneter ist Willy Brandt ab 1950 auch Chefredakteur des Parteiblatts „Sozialdemokrat“, das er in „Berliner Stadtblatt“ umbenennt. Wegen anhaltend hoher Defizite muss die Zeitung ihr Erscheinen 1951 jedoch einstellen.
Der Aufstieg in die Führung des Landesverbands wird Brandt aber schwer gemacht, besonders durch den Vorsitzenden. Franz Neumann und dessen Anhänger wollen die SPD als traditionelle Arbeiterpartei erhalten, während der Flügel um Ernst Reuter und Willy Brandt die Partei für alle Schichten des Volkes öffnen möchte. Über Kreuz liegen beide Lager auch in Bezug auf die Westintegration Berlins und der Bundesrepublik, die Reuter und Brandt nachdrücklich befürworten.
Machtkampf mit Neumann
Der Machtkampf in der Berliner SPD wird mit harten Bandagen ausgetragen. Neumann sammelt Material über Brandts Exilzeit und setzt es für Verleumdungen seines Rivalen ein. Bei den Wahlen zum SPD-Landesvorsitz 1952 und 1954 behält der Amtsinhaber noch die Oberhand über den Herausforderer. Doch bereits 1955 kann Neumann nicht verhindern, dass Brandt zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt wird.
1957 hat der populäre 43-Jährige die Mehrheit der Berliner SPD endgültig hinter sich. Trotz erbitterten Widerstands des alten Rivalen nominiert die Landespartei Willy Brandt als Nachfolger des verstorbenen Otto Suhr für das Amt des Regierenden Bürgermeisters und wählt ihn 1958 auch zum Landesvorsitzenden. Das hat er nicht zuletzt Klaus Schütz zu verdanken, der systematisch Delegierte für ihn gewonnen hat. Zu den mächtigsten Stützen im Brandt-Lager in der Berliner SPD zählen Kurt Mattick und Kurt Neubauer.
Sprecher des freien Berlin
Wie vor ihm nur Ernst Reuter findet der Regierende Bürgermeister Willy Brandt national und international große Anerkennung. Als überparteilicher Sprecher des freien Berlin ist er einer der härtesten Kritiker der kommunistischen Diktatur der SED in der DDR und ein steter Mahner für die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit.
Durch die neuerliche Berlin-Krise, die der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow 1958 mit seinem Ultimatum auslöst, wird Brandt weltweit bekannt und zum beliebtesten SPD-Politiker in der Bundesrepublik. Energisch weist der Regierende Bürgermeister die Forderung der Sowjetunion zurück, wonach West-Berlin von den Truppen der USA, Großbritanniens und Frankreichs geräumt und in eine „entmilitarisierte freie Stadt“ umgewandelt werden müsse.
Dass der Westen Chruschtschows Drohungen nicht nachgibt, ist auch Willy Brandts großem persönlichen Einsatz zuzuschreiben. In enger Zusammenarbeit mit der Bundesregierung von Kanzler Konrad Adenauer (CDU) besteht er darauf, den rechtlichen Status Berlins nicht zu ändern und den freien Zugang zur Stadt zu erhalten.
Mauerbau-Krise
Mit der Abriegelung der Berliner Sektorengrenze am 13. August 1961 erreicht die Krise ihren Höhepunkt. Um die Massenabwanderung aus der DDR zu stoppen, baut das SED-Regime unter Walter Ulbricht mit Zustimmung der Sowjetunion eine Mauer um West-Berlin. Der Grenzwall zerreißt Familien und Freunde und ist eine mörderische Barriere, an der bis 1989 insgesamt 139 Menschen ihr Leben verlieren.
Die brutale Grenzschließung, die eine Verletzung des Viermächtestatus Berlins darstellt, verurteilt Willy Brandt scharf. Der Regierende Bürgermeister gibt der Empörung der Bevölkerung Ausdruck und ruft den US-Präsidenten in einem Brief zum Handeln auf. Zwar verstärkt John F. Kennedy daraufhin die amerikanischen Truppen in West-Berlin. Aber gegen den Mauerbau schreiten die USA aus Sorge vor einem Atomkrieg nicht ein.
Auch Brandts Verhältnis zur Regierung in Bonn ist in jenen Tagen schwer belastet. Im Wahlkampf 1961, bei dem der Berliner Sozialdemokrat erstmals SPD-Kanzlerkandidat ist, verunglimpft Bundeskanzler Adenauer seinen Kontrahenten als „Brandt alias Frahm“.
Hilfe für West-Berlin
Als Regierender Bürgermeister muss Willy Brandt nicht nur die Trauer und die Frustration der Berliner auffangen, die gegen die Mauer und die Todesschüsse auf Flüchtlinge protestieren. Der von ihm geführte SPD-CDU-Senat ist auch mit massiven wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Durch die Grenzschließung fehlen in West-Berlin über Nacht mehr als 50.000 Arbeitskräfte, die zuvor aus Ost-Berlin eingependelt sind. Zudem wandern Unternehmen nach Westdeutschland ab.
Durch großzügige Finanzhilfen der Bundesrepublik gelingt es dem Senat, die Lage zu stabilisieren. Zahlreiche neue Investitionen in Infrastruktur- und Verkehrsprojekte, in den Wohnungs- und Städtebau sowie in Kultureinrichtungen erhöhen die Attraktivität der eingemauerten Stadt. Vermehrt ziehen westdeutsche Studenten und türkische „Gastarbeiter“ nach West-Berlin, das zugleich immer abhängiger von Bundesmitteln wird.
Großer Wahlsieg und politischer Aufbruch
Nach dem Ende der internationalen Krise um Berlin, das mit dem glücklichen Ausgang der Kuba-Krise 1962 einhergeht, ist Willy Brandt auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Mit ihm an der Spitze erzielt die SPD bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 1963 das Traumergebnis von 61,9% der Stimmen. So gestärkt, wagt der Regierende Bürgermeister einen politischen Neuanfang. Er beendet das langjährige Regierungsbündnis mit der CDU und holt die FDP in den Senat.
Der Koalitionswechsel erleichtert es, neue Wege in der Ost- und Deutschlandpolitik zu beschreiten. Da vorerst niemand die Mauer beseitigen kann, wollen Willy Brandt und sein wichtigster Berater Egon Bahr sie mit einer „Politik der kleinen Schritte“ wenigstens durchlöchern. Unterstützt werden sie von Bundessenator Klaus Schütz, Innensenator Heinrich Albertz und dem Chef der Senatskanzlei Dietrich Spangenberg. Ende 1963 vereinbaren der Senat und die DDR-Regierung ein Passierscheinabkommen, wodurch West-Berliner erstmals seit dem Mauerbau ihre Verwandten in Ost-Berlin besuchen können.
Um Außenminister in der Großen Koalition in Bonn zu werden, tritt Willy Brandt Ende 1966 als Regierender Bürgermeister zurück. Sein Nachfolger ist Heinrich Albertz, der indes bald an den West-Berliner Studentenprotesten und an neuen Flügelkämpfen in der Berliner SPD scheitert, die schon Brandt stark zu schaffen gemacht haben.
Literaturhinweise:
Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960.
Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 3: Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947–1966, bearb. von Siegfried Heimann, Berlin 2004.
Wolfgang Schmidt: Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte. Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948–1963, Wiesbaden 2001.