Schule des Nordens – Skandinavische Prägungen 1933–1946

In Norwegen findet Willy Brandt 1933 Zuflucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Die Norwegische Arbeiterpartei DNA, in der er sich auch politisch engagiert, unterstützt ihn. Norwegen wird seine zweite Heimat. Nach der deutschen Besetzung und seiner Flucht nach Schweden erhält Brandt 1940 die norwegische Staatsbürgerschaft. Bis Kriegsende setzt er sich leidenschaftlich für den Freiheitskampf der Norweger ein. Stark beeinflusst von den nordischen Demokratien, wandelt Brandt sich im skandinavischen Exil vom linksrevolutionären Sozialisten zum Sozialdemokraten.

Starthilfe von der Norwegischen Arbeiterpartei DNA

Bei seiner Ankunft in Oslo Anfang April 1933 kann Willy Brandt, der dort für die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) einen Auslandsstützpunkt für ihren Widerstand gegen das NS-Regime aufbauen soll, auf die vielfältige Hilfe der Norwegischen Arbeiterpartei DNA zählen. Beide Parteien sind Mitglied in der Internationalen Arbeitsgemeinschaft (IAG), einem sehr kleinen linkssozialistischen Dachverband.

Über Finn Moe, den außenpolitischen Redakteur der Parteizeitung „Arbeiderbladet“, kommt der Neuankömmling sofort mit dem Chefredakteur Martin Tranmæl in Kontakt, so dass Brandt schon nach wenigen Tagen seinen ersten Artikel auf Norwegisch veröffentlichen kann. Da er die Sprache schnell lernt, ist er bald in der Lage, als Journalist zu arbeiten und Vorträge zu halten. Seine Beiträge widmen sich vor allem der Frage, wie Hitler an die Macht kommen konnte und welche Schuld die deutsche Arbeiterbewegung daran hat.

Gleich zu Beginn lernt der 19-Jährige auch den DNA-Vorsitzenden Oscar Torp kennen, der ihm eine Unterkunft, finanzielle Unterstützung und eine Arbeitserlaubnis verschafft. In den kommenden Monaten und Jahren setzt sich Torp zudem mehrmals beim norwegischen Justizministerium erfolgreich dafür ein, dass die befristete Aufenthaltserlaubnis für Brandt immer wieder verlängert und er nicht nach Deutschland abgeschoben wird.

Kampf um den DNA-Kurs

In enger Abstimmung mit Jacob Walcher, dem Leiter der in Paris ansässigen Auslandszentrale der SAPD, engagiert sich Willy Brandt von Anfang an auch in der norwegischen Arbeiterbewegung. Er wird Mitglied im DNA-Jugendverband Arbeidernes Ungdomsfylking (AUF). Der junge Deutsche soll, so Walchers abenteuerlicher Plan, die norwegische Arbeiterpartei mit Hilfe ihres linken Flügels auf einen revolutionären Kurs zu bringen versuchen.

Um die Gegner der moderaten DNA-Führung zu stärken, schließt sich Brandt im Herbst 1933 auch heimlich der marxistischen Intellektuellenorganisation „Mot Dag“ („Dem Tag entgegen“) an. An der Spitze dieser elitären Gruppe, die schon 1925 aus der DNA ausgeschlossen worden ist, steht der ehemalige Kommunist Erling Falk. Die scharfe innerparteiliche Opposition und die Mitarbeit bei „Mot Dag“, zu deren Führungszirkel er ab 1934 gehört, tragen Willy Brandt heftige Konflikte mit dem DNA-Vorsitzenden Oscar Torp ein. Zeitweise entzieht ihm die Partei deshalb die materielle Unterstützung.

Teil der norwegischen Arbeiterbewegung

Erst ab dem Frühjahr 1935 entspannt sich das Verhältnis zur DNA. Gegen den Willen der SAPD-Führung in Paris bricht Brandt mit „Mot Dag“. Außerdem äußert sich der 22-Jährige vorsichtig positiv zur Regierungsübernahme der norwegischen Arbeiterpartei im März 1935, obwohl sie keine Revolution will, sondern pragmatische Reformpolitik im Rahmen der parlamentarischen Demokratie betreibt.

Allmählich beginnt Brandt umzudenken und sich von der revolutionären Rhetorik der SAPD zu lösen. Dabei spielt nicht zuletzt die Erfahrung eine Rolle, dass sich die DNA-Führung trotz aller Querelen ihm gegenüber immer wieder tolerant und solidarisch gezeigt hat. Vor allem aber hat ihre Reformpolitik Erfolg, der Willy Brandt beeindruckt. Faschisten wie Kommunisten werden in Norwegen politisch an den Rand gedrängt. Die DNA wandelt sich zur Volkspartei und ist für auch für Bauern, Fischer oder Beamte wählbar.

Nach anfänglicher Skepsis befürwortet Brandt 1939 das neue reformorientierte Parteiprogramm, das sein politisches Denken stark beeinflusst. Zu diesem Zeitpunkt ist er längst voll in der norwegischen Arbeiterbewegung integriert. Norwegen, dessen Staatsbürgerschaft er nach seiner Ausbürgerung durch die deutschen Behörden 1938 beantragt, ist seine zweite Heimat geworden.

Exil in Stockholm

Die Besetzung Norwegens durch deutsche Truppen im April 1940 zwingt Willy Brandt, Oslo Hals über Kopf zu verlassen. Um nicht der Gestapo in die Hände zu fallen, zieht er die norwegische Uniform eines Freundes an und lässt sich von der Wehrmacht gefangen nehmen. Nach seiner kurzzeitigen Kriegsgefangenschaft flieht er nach Schweden. In Stockholm, wo er im Juli 1940 ankommt, erhält er einen norwegischen Pass.

Zur norwegischen Exilgemeinschaft gehörend, setzt sich Brandt als Journalist und Publizist für die Befreiung Norwegens ein. Gemeinsam mit dem Schweden Olov Jansson betreibt er ein „Schwedisch-Norwegisches Pressebüro“. Darüber hinaus ist er Mitarbeiter beim Widerstandsblatt „Handschlag“, das der schwedische Schriftsteller Eyvind Johnson herausgibt. Die Zeitung wird über die Grenze geschmuggelt und hat große Bedeutung für die Moral der Norweger. Über den Freiheitskampf seiner norwegischen Landsleute schreibt Brandt auch mehrere Bücher. Zudem berichtet er für eine amerikanische Nachrichtenagentur über das Kriegsgeschehen in Europa und die NS-Verbrechen in den von den Deutschen besetzten Gebieten.

Prägend für ihn sind darüber hinaus die intensiven Diskussionen mit demokratischen Sozialisten aus 14 Ländern in der so genannten „Kleinen Internationale“ in Stockholm sowie die Kontakte zur Sozialdemokratischen Partei Schwedens. Brandt schätzt die schwedische Sozialdemokratie, die in seinen Augen undogmatisch, freiheitlich, volkstümlich und machtbewusst zugleich agiert. Im Besonderen ist es die schwedische Idee des „Volksheims“, des demokratischen und sozialreformerischen „Wohlfahrtsstaats“, die ihn fasziniert und die er später als Sozialdemokrat in Berlin und in Bonn aufgreifen wird.

Skandinavischer Berichterstatter im Nachkriegsdeutschland

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa im Mai 1945 pendelt Willy Brandt häufig zwischen Oslo und Stockholm. Im November 1945 reist er erstmals wieder nach Deutschland. Für die skandinavische Arbeiterpresse berichtet er bis zum Frühjahr 1946 aus Nürnberg über den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des „Dritten Reichs“. Die Eindrücke seines viermonatigen Aufenthalts verarbeitet Brandt auch in einem Buch, das 1946 in Norwegen und in Schweden unter dem Titel „Forbrytere og Andre Tyskere“ („Verbrecher und andere Deutsche“) erscheint.

Damit will er dem skandinavischen Publikum einmal mehr deutlich machen, dass nicht alle Deutschen pauschal als Nazi-Verbrecher abgestempelt werden dürfen. Zugleich hebt Brandt aber auch hervor, dass jeder Deutsche sich der politischen Verantwortung für den vom NS-Regime begangenen Völkermord stellen müsse.


Literaturhinweise:

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 1: Hitler ist nicht Deutschland. Jugend in Lübeck – Exil in Norwegen 1928–1940, bearb. von Einhart Lorenz, Bonn 2002.

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 2: Hitler ist nicht Deutschland. Zwei Vaterländer. Deutsch-Norweger im schwedischen Exil – Rückkehr nach Deutschland 1940-1947, bearb. von Einhart Lorenz, Bonn 2000.

Willy Brandt: Links und frei. Mein Weg 1930–1950, Hamburg 1982 (Neuauflage 2012).

Willy Brandt: Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946, bearb. von Einhart Lorenz, Bonn 2007 (Bd. 1 der Willy-Brandt-Dokumente).

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