Historische Verantwortung – Verhältnis zum Judentum und zu Israel 1933–1992

Von Jugend an stellt sich Willy Brandt dem Antisemitismus und der NS-Rassenlehre klar entgegen. Nach 1945 betont er die bleibende historische Verantwortung Deutschlands für den Völkermord der Nazis an den europäischen Juden. Daraus ergibt sich für Brandt die Verpflichtung der Deutschen zum Schutz jüdischen Lebens, dessen Wiederaufbau er sehr fördert. Das schließt insbesondere die vielfältige Hilfe der Bundesrepublik Deutschland für den Staat Israel ein, den er als erster amtierender Kanzler 1973 besucht. Das Existenzrecht Israels ist für Brandt unantastbar. Im Nahost-Konflikt setzt er sich gleichwohl für eine friedliche Lösung ein, die auch die Rechte der Palästinenser anerkennt.

Gegner des Antisemitismus

Von Anfang an gründet Willy Brandts Widerstand gegen den Nationalsozialismus auch auf seiner entschiedenen Ablehnung des Antisemitismus und der Rassenlehre Hitlers. Schon 1930 warnt er vor der volksverhetzenden Wirkung des Judenhasses, der zum Kern der NS-Ideologie gehört.

Der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 zählt zu den letzten Eindrücken, die der 19-Jährige kurz vor seiner Flucht aus Hitler-Deutschland ins Exil nach Norwegen mitnimmt. In den Artikeln und Schriften, mit denen der Journalist Brandt die Norweger in den 1930er Jahren über die Entwicklung im „Dritten Reich“ informiert, ist die zunehmende Verfolgung der Juden immer wieder Thema. Über die Pogromnacht vom 9. November 1938 sowie die folgenden Terrormaßnahmen und Repressalien der Nazis gegen jüdische Bürger berichtet er ausführlich und mit größter Abscheu.

Entsetzen über Völkermord

Von der planmäßigen Ermordung der Juden, die das NS-Regime während des Zweiten Weltkriegs in den von Hitlers Wehrmacht besetzten Gebieten durchführt, hört Willy Brandt erstmals 1943 in Stockholm. Die Nachricht eines polnischen Freundes über die Vergasung von Juden gibt er sofort an eine amerikanische Presseagentur weiter.

Das ganze Ausmaß der deutschen Verbrechen erfährt Brandt jedoch erst beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des „Dritten Reichs“ 1945/46. Die Enthüllungen entsetzen und erschüttern ihn. Angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden in Europa und Millionen weiterer Opfer betont er, dass kein Deutscher sich der Verantwortung für den Krieg, den Völkermord und die Folgen entziehen könne.

Bemühungen um Aussöhnung

In der Nachkriegszeit stellt sich Willy Brandt in Deutschland energisch gegen alle Tendenzen eines wieder aufkeimenden Antisemitismus. Der Berliner Sozialdemokrat ist aufrichtig um eine Aussöhnung mit den Juden bemüht. Im Bundestag in Bonn stimmt er mit der gesamten SPD-Fraktion 1953 für das von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) unterzeichnete „Luxemburger Abkommen“, worin sich die Bundesrepublik Deutschland zu „Wiedergutmachungsleistungen“ an Israel und die Jewish Claims Conference verpflichtet.

In Berlin setzt Brandt sich besonders für die Jüdische Gemeinde ein. 1959 kann er ihrem Vorsitzenden Heinz Galinski ein neues, vom Land Berlin errichtetes Gemeindehaus übergeben. In der Überzeugung, die Erinnerung an die Shoa wachhalten zu müssen, erklärt der Regierende Bürgermeister 1961: „Die furchtbaren Verbrechen (…) an Millionen jüdischer Menschen sind durch keinen guten Willen, keine Wiedergutmachung, keine Rückerstattung auszulöschen.“

Die Renaissance der von den Nazis zerstörten jüdischen Kultur liegt Brandt sehr am Herzen. Erst nach seinem Tod wird bekannt, dass er den Großteil des mit dem Friedensnobelpreis von 1971 verbundenen Preisgelds für den Wiederaufbau der Synagoge „Schola Grande Tedesca“ in Venedig gespendet hat.

Aufbau der Beziehungen zu Israel

Schon Ende der 1930er Jahre hat Willy Brandt sich dafür ausgesprochen, der zionistischen Bewegung die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina zu ermöglichen. Das 1948 gegründete Israel besucht er zum ersten Mal im November 1960. Der Gast aus Deutschland spricht dabei u. a. mit Staatsgründer David Ben-Gurion und ist besonders von den Pionierleistungen in den Kibbuzim sehr beeindruckt.

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel durch die Bundesregierung unter Kanzler Ludwig Erhard (CDU) im Mai 1965 entspricht einem langjährigen Wunsch der SPD und ihres Vorsitzenden Brandt. Die deutschen Sozialdemokraten bedauern allerdings, dass in der Folge fast alle arabische Staaten ihre Beziehungen mit der Bundesrepublik abbrechen.

Israel-Politik der SPD-FDP-Regierung

Wie für die Vorgängerregierungen steht auch für das sozial-liberale Kabinett unter Bundeskanzler Willy Brandt ab 1969 die Notwendigkeit eines guten Verhältnisses zu Israel außer Frage. Die Bundesrepublik setzt ihre Wirtschaftshilfe für den israelischen Staat fort und unterstützt dessen Einbindung in den europäischen Markt.

Die SPD-FDP-Regierung strebt eine „Normalisierung“ der Beziehungen mit Israel an. Sie hebt dabei aber stets deren „besonderen Charakter“ hervor, der sich aus der historischen Verantwortung der Deutschen für die Shoa ergibt. Mit dem Kniefall vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau im Dezember 1970 unterstreicht Willy Brandt diese bleibende Verantwortung. Seine Geste findet auch in Israel große Anerkennung und trägt viel zur positiven Entwicklung des deutsch-jüdischen Verhältnisses bei.

Einen intensiven Austausch pflegt der Kanzler mit dem Vorsitzenden der Jewish Claims Conference, Nahum Goldmann. Doch die Bemühungen um eine abschließende Entschädigung für jüdische Verfolgte des NS-Regimes bleiben ohne Ergebnis.

Kompliziertes Verhältnis zur Regierung Meir

Die „neue Ostpolitik“ gegenüber der Sowjetunion und die Wiederaufnahme der Beziehungen der Bundesrepublik zu den arabischen Staaten zu Beginn der 1970er Jahre stoßen auf erhebliches Misstrauen bei Israels Regierung. Premierministerin Golda Meir sieht vor allem in Bonns Bestreben um eine „ausgewogene Nahostpolitik“ eine Herabstufung der deutsch-israelischen Beziehungen.

Stark belastet wird das Verhältnis durch das Olympia-Attentat von München 1972, bei dem elf israelische Sportler ums Leben kommen. Auf die baldige Freilassung der an dem Anschlag beteiligten palästinensischen Terroristen reagiert Israel mit schweren Vorwürfen an die Adresse der Bundesregierung.

Bis zum ersten Staatsbesuch eines deutschen Bundeskanzlers in Israel im Juni 1973 gelingt es Willy Brandt und Golda Meir, die Beziehungen wieder zu entspannen. Beide verbindet nicht nur die Idee des demokratischen Sozialismus. Sie empfinden auch tiefen Respekt und persönliche Wertschätzung füreinander. In Bezug auf die Voraussetzungen und Möglichkeiten eines Friedens im Nahen Osten liegen beide jedoch weit auseinander.

Geheime Hilfe im Jom-Kippur-Krieg

Trotz ihrer offiziell neutralen Haltung liefert die Bundesrepublik während des Jom-Kippur-Kriegs im Oktober 1973 auf Anweisung von Kanzler Willy Brandt und Verteidigungsminister Georg Leber (SPD) militärisches Gerät der Bundeswehr an Israel. Auf diese geheime Hilfe ist die in den ersten Tagen nach dem arabischen Angriff schwer bedrängte israelische Armee dringend angewiesen.

Die sozial-liberale Bundesregierung duldet auch, dass Nachschublieferungen der USA an Israel über das Territorium der Bundesrepublik laufen. Erst als die Presse darüber berichtet, wie die Amerikaner in Bremerhaven Frachter unter israelischer Flagge beladen, verlangt Brandt unter Verweis auf die deutsche Neutralität einen sofortigen Stopp dieser Aktivitäten. Seine Forderung ruft heftige Proteste in Israel und den USA hervor.

Kritische Solidarität

Das Existenzrecht Israels ist für Willy Brandt unantastbar und nicht verhandelbar. Zugleich schließt er sich nach 1973 den Stimmen in der internationalen Politik an, die auch für die Anerkennung der legitimen Rechte des palästinensischen Volkes eintreten.

Dass Brandt als Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) 1979 erstmals mit Jassir Arafat, dem Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), zusammentrifft, stößt jedoch auf heftige Kritik der Israelischen Arbeitspartei von Shimon Peres und Itzhak Rabin. Umgekehrt geht Brandt 1982 hart mit dem Vorgehen der israelischen Armee im Libanon-Krieg ins Gericht.

Doch bei aller Kritik steht die Solidarität mit dem Staat Israel für ihn niemals in Frage. Wie hoch wiederum dort das Ansehen des Altkanzlers ist, zeigt sich bei seinem letzten Israel-Besuch 1985. In der Nähe von Nazareth wird ein Wald nach Willy Brandt benannt.


Literaturhinweise:

Willy Brandt: Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946, bearb. von Einhart Lorenz, Bonn 2007 (Bd. 1 der Willy-Brandt-Dokumente).

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 8: Über Europa hinaus. Dritte Welt und Sozialistische Internationale, bearb. von Bernd Rother und Wolfgang Schmidt, Bonn 2006.

Wolfgang Schmidt: Aus historischer Verantwortung, moralischer Verpflichtung und politischer Überzeugung. Wie sich Bundeskanzler Willy Brandt um Israel und den Frieden im Nahen Osten bemühte, Berlin 2014 (Heft 26 der Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung).

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