„Über Europa hinaus“ – Sozialistische Internationale 1976–1992

Als Präsident der Sozialistischen Internationale von 1976 bis 1992 verschafft Willy Brandt der zuvor nahezu bedeutungslosen Organisation Gehör in der Weltpolitik. Die Vereinigung sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien wird unter seiner Führung erstmals über Europa hinaus aktiv und gewinnt vor allem in Lateinamerika neue Mitglieder. Gemeinsam mit seinen politischen Freunden in der SI engagiert sich Brandt für Frieden, Demokratie und Menschenrechte weltweit. Regionale Schwerpunkte seiner Bemühungen sind Mittelamerika, Südafrika, Osteuropa und der Nahe Osten.

Neue weltpolitische Bedeutung

Erst nach monatelanger Bedenkzeit ist der SPD-Vorsitzende Willy Brandt 1976 bereit, die Präsidentschaft der Sozialistischen Internationale zu übernehmen. Grund für sein Zögern ist vor allem der schlechte Zustand, in dem sich die 1951 gegründete Organisation mit Sitz in London damals befindet. Auch wenn ihre Traditionslinien bis zur Internationalen Arbeiterassoziation von 1864 zurückreichen, spielt die SI schon seit Jahrzehnten keine große Rolle mehr in der Weltpolitik.

Doch aufgrund des außerordentlich hohen Renommees, das der deutsche Altkanzler und Friedensnobelpreisträger international genießt, steigt schon unmittelbar nach Brandts Amtsübernahme am 26. November 1976 in Genf das Interesse an der Sozialistischen Internationale stark an. Zu Fachkonferenzen der SI entsenden die Außenministerien der USA und der Sowjetunion erstmals Beobachter. Der wachsende Stellenwert der Internationale ist auch an der immer intensiver werdenden Medienberichterstattung über sie ablesbar. Trotz ihres zunehmenden weltpolitischen Gewichts bleibt sie aber eine lockere Organisation, deren Beschlüsse für die Mitgliedsparteien nicht bindend sind.

Weltweites Netzwerk einflussreicher Politiker

Unter Willy Brandts Führung nehmen an den Sitzungen der Spitzengremien der SI regelmäßig politische Schwergewichte wie Bruno Kreisky, François Mitterrand, Olof Palme und Mário Soares teil. Später stößt auch Felipe González dazu.

Zu den Parteiführern, mit denen Brandt im Laufe seiner Präsidentschaft in der SI intensiv zusammenarbeitet, zählen außerdem: aus Europa Bettino Craxi (Italien), Anker Jørgensen (Dänemark), Lionel Jospin (Frankreich), Kalevi Sorsa (Finnland) und Joop den Uyl (Niederlande), aus Mittel- und Südamerika Michael Manley (Jamaika), Luis Alberto Monge (Costa Rica), José Francisco Peña Gomez (Dominikanische Republik), Guillermo Ungo (El Salvador) und Carlos Andrés Pérez (Venezuela) sowie aus Afrika Leopold Senghor (Senegal) und Boutros Boutros Ghali (Ägypten).

Öffnung und Erweiterung

Ein wesentlicher Mangel der Sozialistischen Internationale, den Willy Brandt beseitigen möchte, ist ihre Zentrierung auf Europa. 1976 kommen ihre Mitgliedsparteien überwiegend vom alten Kontinent. Gemeinsam mit Kreisky und Palme plädiert Brandt schon seit Beginn der 1970er Jahre für eine weltweite Zusammenarbeit linker Reformkräfte. Die drei führenden Köpfe der europäischen Sozialdemokratie suchen vor allem den Dialog mit Parteien und Bewegungen in der „Dritten Welt“, die der Idee des Sozialismus nahestehen, aber nicht aus der Tradition der Arbeiterbewegung stammen.

Besonders im Blickpunkt steht dabei Lateinamerika. Hier kann Brandt an die von ihm selbst 1975 ausgerufene „Allianz für Frieden und Fortschritt“ anknüpfen, die im Mai 1976 in Caracas erstmals 13 europäische und 15 lateinamerikanische Parteien – noch außerhalb der SI-Strukturen – zu einem Diskussionsforum zusammengeführt hat. Im Mai 1978 richtet die Internationale ein ähnliches Treffen mit afrikanischen Parteien in Dakar (Senegal) aus.

Der Kurs der Öffnung und Erweiterung ist erfolgreich. Schon 1980 sind die außereuropäischen Mitgliedsparteien in der SI in der Mehrheit. Während Willy Brandts Präsidentschaft gelingt es, ihre Zahl von 13 auf 34 zu erhöhen. Vor allem in Lateinamerika und in der Karibik, aber auch in Afrika gewinnt die Internationale zahlreiche neue Partner. Zur Kehrseite des raschen Zuwachses gehört jedoch die Aufnahme von Parteien, z. B. aus Panama, Grenada, Tunesien und Ägypten, die demokratischen Mindeststandards nicht genügen.

Unterstützung für Befreiungsbewegungen

Bei seiner Antrittsrede beim Genfer Kongress verkündet Willy Brandt 1976 insbesondere eine Offensive der SI für die Menschenrechte. In der Folge stellt sich die Internationale zum ersten Mal in ihrer Geschichte an die Seite von Befreiungsbewegungen, die mit der Waffe in der Hand gegen politische Unterdrückung und soziales Unrecht kämpfen.

So zeigt sich Brandt solidarisch mit den Revolutionären in Nicaragua, die 1979 die jahrzehntelange Diktatur zu Fall bringen. Zugleich kritisiert er in den 1980er Jahren aber immer wieder die zu große Annäherung der Sandinisten unter Daniel Ortega an kommunistische Leitlinien. In El Salvador sympathisiert der SI-Präsident mit der linken Befreiungsbewegung FMLN, zu der auch örtliche Sozialdemokraten zählen und die gegen die von den USA unterstützte konservative Militärjunta kämpft. Zugleich sind Brandt und seine Freunde in die Bemühungen um die Beendigung des Bürgerkriegs im Land eingeschaltet. In seinem Auftrag reisen sein Bonner Mitarbeiter Klaus Lindenberg und der SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski häufig nach Mittelamerika und führen dort viele Gespräche mit den Konfliktparteien.

Der Kampf gegen die Rassendiktatur in Südafrika ist ebenfalls Teil der SI-Offensive für die Menschenrechte. 1978 nimmt die Internationale direkte Kontakte mit dem ANC auf, der Organisation der schwarzen Südafrikaner. Mitte der 1980er Jahre kommt ein lange skeptischer Willy Brandt schließlich zu der Überzeugung, dass das weiße Apartheid-Regime in Pretoria mit Wirtschaftssanktionen von außen unter Druck gesetzt werden muss. Er und die SI machen sich auch für die Freilassung des seit 1962 inhaftierten Nelson Mandela stark. Als der ANC-Führer 1990 kurz nach seiner Haftentlassung Bonn besucht, ist es sein ausdrücklicher Wunsch, Brandt zu treffen und ihm für die Unterstützung zu danken.

Für Frieden und Entspannung

Eines der wichtigsten politischen Themen für Willy Brandt und die Sozialistische Internationale ist die Sicherheitspolitik. Denn zwischen 1979 und 1984 spitzt sich der Ost-West-Konflikt wieder bedrohlich zu. In großer Sorge um den Frieden bemühen sich der SI-Präsident und seine Mitstreiter darum, die Reste der Entspannungspolitik zu bewahren und, wo möglich, weiterzuentwickeln.

Brandt versucht die Internationale zu einem Forum für den blockübergreifenden Meinungsaustausch zu machen. Erschwert wird dies allerdings dadurch, dass es auch innerhalb der SI erhebliche Differenzen in sicherheitspolitischen Fragen gibt. Die deutschen Sozialdemokraten, die für den Vorrang der Abrüstung eintreten, lehnen 1983 die Aufstellung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses ab. Frankreichs Sozialisten dagegen befürworten die Stationierung, die in ihren Augen das Gleichgewicht der nuklearen Abschreckung gegenüber der Sowjetunion wiederherstellt.

Nach dem Amtsantritt des Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow 1985 entwickelt sich ein intensiver Dialog zwischen der SI und der Sowjetführung. Beide Seiten sprechen sich für das Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ aus. Brandt und die Internationale begrüßen sehr die weitreichenden Abrüstungsvorschläge Gorbatschows.

Überwindung des Kommunismus

Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime rückt ab 1989 Osteuropa in den Fokus der Sozialistischen Internationale. Als Gorbatschow auf dem SI-Kongress in Berlin 1992 das Wort ergreift, ist dies ein symbolträchtiges Zeichen für die Niederlage des Kommunismus und die Durchsetzungskraft der Idee des Demokratischen Sozialismus.

Doch Willy Brandts Erwartung von 1989/90, dass es im Osten Europas zu einer sozialdemokratischen Renaissance kommen werde, erweist sich als Irrtum. Zwar bekennen sich dort viele der bisherigen kommunistischen Staatsparteien zur Sozialdemokratie, aber die osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen wenden sich überwiegend dem Liberalismus zu.

Erfolgreich ist hingegen Brandts jahrelanges Werben um die Kommunistische Partei Italiens, die schon Mitte der 1970er Jahre mit der Sowjetunion gebrochen hat. 1990/91 löst sich die KPI gänzlich vom Kommunismus leninistischer Prägung und benennt sich um. Als „Demokratische Partei der Linken“ tritt sie 1992 der SI bei.

Begrenztes Engagement im Nahen und Mittleren Osten

Anders als in Mittelamerika sind Brandt und die Internationale im Nahost-Konflikt kaum als Vermittler gefragt. In den 1970er und 1980er Jahren unternehmen Kreisky, Palme und Soares für die SI Erkundungsmissionen im Nahen und Mittleren Osten, ohne dass dies jedoch zu einer Annäherung zwischen Israel auf der einen und den Arabern und Palästinensern auf der anderen Seite führt.

In den Fällen, wo er selbst aktiv wird, setzt sich der SI-Präsident für die Einbeziehung aller Konfliktparteien in die Suche nach einer Friedenslösung ein. 1979 treffen Brandt und Kreisky in Wien erstmals mit Jassir Arafat, dem Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), zusammen. 1990/91 versucht Willy Brandt den irakischen Diktator Saddam Hussein zu überzeugen, seine Truppen freiwillig aus Kuwait zurückzuziehen – vergeblich. Er erreicht aber die Freilassung westlicher Geiseln aus dem Irak.


Literaturhinweise:

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 8: Über Europa hinaus. Dritte Welt und Sozialistische Internationale, bearb. von Bernd Rother und Wolfgang Schmidt, Bonn 2006.

Willy Brandt/Bruno Kreisky/Olof Palme: Briefe und Gespräche 1972–1975, Frankfurt a. M./Köln 1975.

Bernd Rother: Sozialdemokratischer Internationalismus – Die SI und der Nord-Süd-Konflikt, in: Ders. (Hrsg.): Willy Brandts Außenpolitik, Wiesbaden 2014, S. 259–334.

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