Um die Europäische Einigung – Konzepte und Politik für Europa 1939–1992

Seit dem skandinavischen Exil ist Willy Brandt ein Anhänger der Idee eines vereinten Europa. Im Kalten Krieg gelangt er zu der Überzeugung, dass die (west)europäische Integration eine Voraussetzung dafür ist, die Teilung Deutschlands und des gesamten Kontinents überwinden zu können. Als Bundeskanzler hat Brandt großen Anteil an der Erweiterung und der Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft und als Mitglied des ersten direkt gewählten Europaparlaments setzt er sich für die Demokratisierung des Einigungsprojekts ein. Nach dem Fall der Berliner Mauer sieht Brandt die Chance für eine gesamteuropäische Einigung, die stets seine Hoffnung und sein Ziel geblieben ist.

Europa-Ideen im Exil

Schon als junger Mann ist Willy Brandt ein Anhänger der Idee eines vereinten Europa. Damit folgt er der internationalistischen Tradition der Arbeiterbewegung, die nationalstaatliche Grenzen überwinden will. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs spricht Brandt sich erstmals für einen Zusammenschluss der Völker zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ aus.

Im skandinavischen Exil tritt er bis 1945 immer wieder für die Schaffung einer „Europäischen Föderation“ ein, deren konkrete Gestalt dabei aber im Ungefähren bleibt. Gegen die Nazis gerichtet, die den Kontinent mit Gewalt vereinigen und beherrschen wollen, betont Brandt, es gehe um ein demokratisches und freies Europa und um ein europäisches Deutschland, nicht um ein deutsches Europa.

Anpassung der Konzeption im Kalten Krieg

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland passt Willy Brandt seine europapolitischen Vorstellungen an die neue Lage an, die durch den Ost-West-Konflikt und die Teilung Europas entstanden ist. Der Berliner SPD-Politiker spricht ab 1948 nicht mehr von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Er sieht nun auch auf absehbare Zeit keine Chance für ein Europa als unabhängige „Dritte Kraft“ zwischen den USA und der Sowjetunion.

Brandt plädiert vielmehr dafür, dass die Staaten Westeuropas – in enger Anlehnung an Amerika und ohne Preisgabe des Ziels einer gesamteuropäischen Einigung – mit der Integration beginnen, indem sie gemeinsame Lösungen für praktische Probleme finden. Er setzt fortan auf eine pragmatische Methode: Die Kooperation soll in der jeweils sinnvollsten Form geschehen und nicht einer vorher festgelegten Struktur folgen.

Dissens mit der Schumacher-SPD

Im Grundsatz befürwortet Willy Brandt 1950 sowohl die Mitgliedschaft der jungen Bundesrepublik im Europarat als auch den Schuman-Plan, der schließlich 1952 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) führt. Damit befindet er sich jedoch in seiner eigenen Partei in einer Minderheitenposition. Denn die SPD unter ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher lehnt diese ersten Schritte auf dem Weg zur Einigung Europas kategorisch ab.

Schumacher argwöhnt, dass damit ein kapitalistisches und katholisches Klein-Europa geschaffen und ein demokratisch-sozialistisches Gesamteuropa verhindert werden soll. Generell sehen die Sozialdemokraten die von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) vorangetriebene Politik der westeuropäischen Integration als ein Hindernis für die Wiedervereinigung des geteilten Deutschland an.

In die scharfe Kritik der SPD an der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die eine Europa-Armee mit westdeutschem Wehrbeitrag schaffen soll, stimmt auch der Bundestagsabgeordnete Brandt ein. An der EVG, die 1954 endgültig scheitert, bemängelt er den vorgesehenen minderen Mitgliedsstatus der Bundesrepublik und eine unzureichende Koordinierung mit der NATO.

Erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ändert die SPD ihre Europapolitik, was Willy Brandt sehr begrüßt. Unter der Führung von Erich Ollenhauer stimmt die Partei den Römischen Verträgen zu, mit denen Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) gründen. Allmählich setzt sich in der SPD die Auffassung Brandts durch, dass die westeuropäische Integration eine wichtige Voraussetzung ist, um die Teilung Deutschlands und Europas einmal überwinden zu können.

Neuanfang der europäischen Integration

Als Außenminister in der Großen Koalition kann Willy Brandt ab Ende 1966 erstmals unmittelbar an der Europapolitik in Bonn und in Brüssel mitwirken. Dabei konzentriert er sich auf die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den sechs Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaften. Dahinter zurückstehen muss der lang gehegte Wunsch, Großbritannien und weitere Staaten aufzunehmen. Haupthindernis gegen die Erweiterung ist der französische Staatspräsident Charles de Gaulle, der sich einer Mitgliedschaft der Briten strikt verweigert.

Die Regierungswechsel in Frankreich und in der Bundesrepublik machen 1969 den Weg für einen Neuanfang frei. Beim EWG-Gipfeltreffen von Den Haag im Dezember 1969 verständigen sich Bundeskanzler Willy Brandt und Staatspräsident Georges Pompidou auf den Beginn von Verhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten. Zusammen mit Dänemark und Irland wird Großbritannien 1973 in die Europäische Gemeinschaft (EG) aufgenommen. Norwegen jedoch lehnt 1972 per Volksentscheid eine EG-Mitgliedschaft ab.

In Den Haag vereinbaren die sechs Staats- und Regierungschefs auch die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), mit der die EG-Staaten erstmals ihre Außenpolitik koordinieren. Mit Hilfe der EPZ gelingt es, bei der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) in Helsinki 1973–1975 eine abgestimmte westeuropäische Position zu entwickeln. Dass die EG in der internationalen Politik eine eigenständige Rolle zu spielen beginnt, worauf Brandt immer wieder drängt, stößt jedoch auf erheblichen Widerstand der USA. Nicht zuletzt deshalb scheitern auch die Bemühungen der Europäer, im Nahost-Konflikt zu vermitteln.

Vom Aufbruch zur Krise

Am 13. November 1973 spricht Bundeskanzler Willy Brandt als erster Regierungschef eines EG-Mitgliedsstaates vor dem (noch nicht direkt gewählten) Europäischen Parlament in Straßburg. In der viel beachteten Rede ruft er dazu auf, die Einigung Europas weiter voranzutreiben. Brandt ist überzeugt: „Die Europäische Union wird kommen!“

Doch die Krisensymptome im europäischen Integrationsprozess sind da schon nicht mehr zu übersehen. Der Ölpreisschock 1973/74 und die nachfolgende Weltwirtschaftskrise beenden jäh den von Willy Brandt mitinitiierten und entscheidend mitgestalteten europapolitischen Aufbruch. Der Plan der EG, bis 1980 eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, erweist sich als zu ehrgeizig und muss bis zum Vertrag von Maastricht 1991 zu den Akten gelegt werden. Die Sozialunion, die der deutsche Kanzler 1972 vorgeschlagen hat, bleibt einstweilen nur eine Idee.

Für die Einheit ganz Europas

Auch nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler 1974 engagiert sich Willy Brandt leidenschaftlich für die Einigung Europas, vor allem für die Demokratisierung des Projekts. 1979 zieht er als Spitzenkandidat der SPD bei den ersten Direktwahlen in das Europaparlament ein, dem er bis 1983 angehört und für das er mehr Rechte einfordert.

Mit den revolutionären Veränderungen in Osteuropa 1989/90 öffnet sich endlich auch die Perspektive für die gesamteuropäische Einheit, auf die Brandt stets gehofft hat. Bereits einen Tag nach dem Mauerfall sagt er in Berlin den berühmten Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, dem er hinzufügt: „Das gilt für Europa im Ganzen.“

Die Frage nach der künftigen Architektur Europas ist auch das Thema seiner letzten öffentlichen Rede am 4. Mai 1992 in Luxemburg. Darin plädiert der Altkanzler für die Integration der ostmitteleuropäischen Staaten in die Europäische Gemeinschaft. Das zukünftige Europa bedürfe, so Brandt, einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Darüber hinaus fordert er, dass neben die beschlossene Wirtschafts- und Währungsunion auch eine Sozialunion treten müsse.


Literaturhinweise:

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 6: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966–1974, bearb. von Frank Fischer, Bonn 2005.

Claudia Hiepel: Europakonzeptionen und Europapolitik, in: Bernd Rother (Hrsg.): Willy Brandts Außenpolitik, Wiesbaden 2014, S. 21–91.

Andreas Wilkens (Hrsg.): Wir sind auf dem richtigen Weg. Willy Brandt und die europäische Einigung, Bonn 2010.

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